Wie Businesspläne quasi über Nacht über den Haufen geworfen werden, hat die Corona-Krise die ganze Welt gelehrt. Doch wer nicht mehr planen kann, was morgen ist, muss vor allem eins sein: flexibel. Das gilt auch und insbesondere für Fulfillment und Logistik.

Durch die Corona-Pandemie hat sich das Einkaufsverhalten der Verbraucher massiv in Richtung Internet verschoben. Bereits im Frühjahr verzeichnete der Logistikdienstleister DHL im deutschen Paketgeschäft aufgrund von Covid-19 Volumina wie sonst nur zu Weihnachten. Und der Trend ist nicht abgeflacht, im Gegenteil: „Aus der Perspektive des E-Commerce könnte man (…) sagen, dass wir durch Covid-19 im Jahr 2020 bereits auf dem Stand des Jahres 2030 sind”, erklärte jüngst Post-Manager Michiel Greeven gegenüber dem „Handelsblatt”.

Das sorgt nicht nur bei den Carriern auf der letzten Meile für Herausforderungen. Auch beim Fulfillment stießen viele Händler im Laufe der Covid-19-Krise an ihre Grenzen. Verwunderlich ist das nicht, denn in der Regel zeichnen sich Logistikprojekte dadurch aus, dass sie nach der bestmöglichen Lösung für ein konkretes Problem suchen. Der Haken dabei ist nur: Die Prognosen für die künftige Geschäftsentwicklung basieren auf adaptierten Geschäftszahlen aus der Vergangenheit. Diese schaffen den Rahmen, in dem etwaige Lageroptimierungsmöglichkeiten ausgelotet werden – nicht selten auch mit Hilfe erfahrener Logistikberater.

Das richtige Lager gibt es nicht

Nach rund 20 Jahren als Logistik-Stratege bleibt festzuhalten: Diese Herangehensweise ist zwar verständlich und auch richtig, aber nur ein theoretisches Konstrukt. In der Realität gibt es „das richtige Lager” erfahrungsgemäß nie. Es ist entweder zu groß oder zu klein, zu stark automatisiert oder zu wenig und damit entweder zu teuer oder technisch auf einem zu alten Stand.

Richtig günstig ist ein Lager bei einem optimalen Auslastungsgrad von 80 bis 90 Prozent – mit Kapazitäten für Spitzen sowie Möglichkeiten für Wachstum und Veränderung. In der Realität ist dieser Zustand aber nie statisch – insbesondere im Endkundengeschäft. Deswegen ist es dringend notwendig, sein eigenes Logistik-Set-Up sowie seine Logistikstrategie und die entsprechenden Kapazitäten in regelmäßigen bzw. Noch besser in rollierenden Vorgehensmodellen zu hinterfragen.

Übersetzt bedeutet dies: Logistik muss flexibel sein. So schwer dies auch zu realisieren ist, die Saisonalität im klassischen Retail lässt keine andere Wahl. Hier muss die Lagerkapazität nicht nur auf Spitzen ausgerichtet werden, sondern darf auch nicht kollabieren, wenn das Marketing eine unerwartet erfolgreiche Kampagne umsetzt. Das gilt auch, wenn durch externe Umstände wie Corona die ursprünglich prognostizierten Spitzenzahlen noch weiter übertroffen werden – und dieser Zustand nicht nur ein kurzfristiger Peak, sondern der neue Normalzustand wird.

Die drei Dimensionen der Logistik-Flexibilität

Flexibilität in der Logistik und ihre Ausrichtung auf ein Übertreffen der besten oder ein Untererfüllen der schlechtesten Pläne muss in drei Dimensionen erfolgen:

In Bezug auf die Fläche ist es beispielsweise sinnvoll, einzelne Lagermodule separat an- und abmieten zu können oder sich – im Sinne einer Langfriststrategie – beispielsweise durch bebaubare Flächenoptionen Spielraum für Expansion und Wachstum zu sichern. Einfacher und kurzfristiger realisierbar ist es, für Spitzenzeiten vorzusorgen, indem man parallel zur Abwicklung in Eigenregie einen Teil des Geschäfts an einen Logistikdienstleister auslagert.

Auch beim Personal ist Flexibilität das A&O. Die einfachste Möglichkeit besteht darin, bei Bedarf Zeitarbeitspersonal hinzuzuziehen. Vorteilhafter sind flexible Zeitarbeitskonten, obgleich diese eine Stundenerfassung und ein systemisches Nachhalten von Über- und Unterstunden erfordern. Eine hohe Flexibilität ist wichtig, dafür müssen in ausreichendem Umfang Springer ausgebildet werden. Dies wird jedoch oft vernachlässigt. Ideal ist es, wenn Mitarbeiter als flexible Einsatzkräfte auf mehreren Funktionen und in mehreren Tätigkeitsbereichen eingearbeitet werden, um im Ernstfall Zusatzflächen komplett eigenverantwortlich übernehmen oder selbst neue Mitarbeiter einlernen zu können.

Für einen Logistik-Bypass müssen auch die Systeme gut vorbereitet sein

Auch systemseitig sollten Online-Händler sich frühzeitig mit der Anbindung zusätzlicher Lagerstandorte und anderer Bypass-Prozesse auseinandersetzen. Und das sind keine trivialen Aufgabenstellungen. So kann es in Spitzenzeiten beispielsweise erfolgreich sein, bestimmte Sondermarketingaktionen mit Blockflächen parallel zu einem automatisierten Prozess mit Fördertechnik abzuwickeln. Das Management sollte sicherstellen, dass die eigene IT-Abteilung darauf eingerichtet ist.

Man muss unumwunden sagen: Mit einer solchen Herangehensweise optimieren Händler im Zweifel nicht ihr Tagesgeschäft. Und im Zweifel bauen sie sich damit auch zusätzliche Kosten für Projektkapazitäten auf. Allerdings verschaffen sie sich so auch Handlungsoptionen und entscheidende Wettbewerbsvorteile für den Fall der Fälle und vermeiden schlaflose Nächte, weil sie mit einem Plan B für die Eventualitäten der Realität gut aufgestellt sind.

Unser Artikel ist erschienen am 10.11.2020 in der Trans.INFO.